Neue Forschungen zu den Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde und der Zwangssterilisierung

Neue Forschungen zu den Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde und der Zwangssterilisierung

Organizer(s)
Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation (Gedenkstätten Brandenburg an der Havel)
Location
Brandenburg an der Havel
Country
Germany
From - Until
12.11.2021 - 14.11.2021
Conf. Website
By
Till Strätz, Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen

Der inhaltliche Schwerpunkt der Herbsttagung des Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisierung lag auf dem Blick auf die Opfer der Euthanasie. Die Leiterin der Gedenkstätten in Brandenburg an der Havel, Sylvia de Pasquale, eröffnete die hybrid veranstaltete Tagung und wies auf einen wichtigen Aspekt der Arbeit der Gedenkstätten in Brandenburg an der Havel hin, nämlich die inklusive Arbeit.

Nach der Begrüßung des Oberbürgermeisters Steffen Scheller stellte Axel Drecoll, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, die historische Bedeutung der Stadt Brandenburg an der Havel heraus: Nicht nur die Aktion T4 hatte hier ihren Ursprung, sondern auch der systematische Gas- und Massenmord wurde hier erprobt und die Expertise der Brandenburger Täter in diesem Gebiet später auch in der Aktion Reinhardt genutzt.

Im Anschluss erklärte MICHAEL WUNDER (Hamburg), was der Arbeitskreis Euthanasie ist und wie er funktioniert. Wunder bezeichnete den Arbeitskreis als eine Art Selbsthilfegruppe von Personen, die sich mit NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisierungen befassen. Den Arbeitskreis gibt es seit 38 Jahren, und das ohne feste Vereinsstruktur, vielmehr handelt es sich um ein offenes, interdisziplinäres Forum für alle Interessierten. Dies ermöglicht einen offenen und fruchtbaren Austausch zwischen den Mitgliedern. Der Arbeitskreis setzt sich aus Mediziner:innen und Pfleger:innen, institutionell angebundenen Historiker:innen, Gedenkstättenmitarbeiter:innen, unabhängigen Hobby-Historiker:innen, aber auch Angehörigen von Opfern zusammen. Diese Interdisziplinarität erklärt auch das sehr breite Themenspektrum: Sowohl lokalgeschichtliche, eng begrenzte Forschungsprojekte werden vorgestellt und diskutiert, als auch Projekte aus übergeordneten Systemforschungsbereichen. Wunder zufolge lässt sich das eine nicht ohne das andere verstehen. Elementarer Bestandteil des Arbeitskreises waren und sind die Zusammenarbeit mit dem Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten sowie der Kampf gegen erstarkende rechte Kräfte. Zudem hob Wunder die Bedeutung des Arbeitskreises in der geschichtlichen Aufarbeitung der „Euthanasie“-Geschichte hervor, zumal die etablierte Geschichtswissenschaft sich vor der Gründung des AK nicht oder kaum mit der Thematik befasst hatte.

Clara Mansfeld (Brandenburg an der Havel) las aus Elvira Mantheys Buch „Die Hempelsche“. Manthey kam aus einer als „asozial“ diffamierten Familie und wurde vom „Irrenhaus“ Uchtspringe in Sachsen-Anhalt in die T4-Tötungsanstalt nach Brandenburg gebracht. Direkt vor der Gaskammer wurde sie zurückgestellt und überlebte, ihre kleine Schwester Lisa wurde ermordet. In ihrer Einleitung wies Mansfeld darauf hin, dass ansonsten kaum derartige Memoiren von den wenigen „Euthanasie“-Überlebenden existieren.

PETRA FUCHS (Berlin/Görlitz) thematisierte einen Aspekt, der sich auch in vielen der folgenden Vor- und Beiträge wiederfand: Intersektionalität. Sie stellte das Konzept der Intersektionalität und seine Geschichte kurz vor, bevor sie anregte, dieses auch in der „Euthanasie“-Forschung häufiger anzuwenden. Um den möglichen Gewinn dieser Einbeziehung zu verdeutlichen, bezog sich Fuchs auf zwei Biografien vor, an denen klar wird, dass mehrere Differenzkategorien zur Ungleichbehandlung der vorgestellten Opfer führten. So wurde beispielsweise „Gisa“ Golda Feuerberg sowohl wegen ihrer „Rasse“ (als Jüdin) als auch wegen ihrer Behinderung verfolgt. Für ihre Behandlung und bei ihrer Ermordung spielen jedoch auch noch einige andere Kategorien eine Rolle, so beispielsweise ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre soziale Herkunft und die Verarmung ihrer Eltern, die nach der Arisierung ihres Geschäfts die Behandlungskosten im Pflegeheim nicht mehr bezahlen konnten. Fuchs ermunterte die Zuhörenden, die Krankenakten, die nach wie vor eine der meistgenutzten Quellen in der „Euthanasie“-Forschung sind, aus einer intersektionalen Perspektive zu betrachten. Nicht nur, um Erkenntnisse weiter ausdifferenzieren und um grundlegende Mechanismen der Diskriminierung freizulegen, sondern auch, um aufzuzeigen, welche Normvorstellungen im Untersuchungszeitraum vorherrschend waren und zur Exklusion führten, die in der NS-Zeit häufig die Vernichtung bedeutete.

Im darauffolgenden Programmpunkt „Neues aus dem Arbeitskreis“ berichteten die Anwesenden und Zugeschalteten von eigenen Anliegen und Projekten. Michael Wunder wies auf die Fertigstellung des neuen Mahn- und Gedenkortes in Hamburg Alsterdorf hin, wo auch die vom 10.-12. Juni 2022 geplante nächste Tagung des Arbeitskreises stattfinden soll.

Anschließend fanden parallel vier Führungen zu unterschiedlichen Themen statt. Die inklusive Führung in einfacher Sprache wurde von Clara Mansfeld und drei Guides mit Lernschwierigkeiten durchgeführt. Diskursiv, dialogisch, mit Fotos und kleinen szenischen Schauspielen führten die Guides durch die Ausstellung und den historischen Ort. Diese Führungen werden seit 2016 angeboten, ursprünglich nur für Gruppen mit Lernbehinderungen, auf Initiative der Guides kann sich inzwischen aber jede:r Interessierte für eine solche Führung anmelden.

Im Anschluss an die Führungen teilten sich die Teilnehmer:innen in fünf verschiedenen Workshops auf. Pro Workshop gab es drei Vorträge, im Anschluss daran Diskussionen und in einigen Workshops außerdem gemeinsame Übungen im Werkstattformat.

Workshop I befasste sich mit neuen Forschungen zu den Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde und Zwangssterilisierungen. ALEXANDER KLEISS (Salzburg) stellte sein Promotionsprojekt über jüdische Psychiatriepatient:innen im Nationalsozialismus in Österreich vor und fragte zu Beginn danach, ob sich Elemente der Intersektionalitätsforschung auch auf andere Bereiche der NS-„Euthanasie“-Forschung anwenden lassen. Die Kernfrage der Arbeit ist, wie sich die NS-Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik am Beispiel der jüdischen Psychiatriepatient:innen manifestierte. Dem Intersektionalitätsansatz folgend, arbeitete Kleiss verschiedene, sich überschneidende Diskriminierungsformen heraus, die in dieser Form nur auf jüdische Psychiatriepatient:innen zutrafen. Mit der Untersuchung von Krankenakten und einer kollektiven Biografie dieser heterogenen und bisher vernachlässigten Gruppe, die in mehrfacher Hinsicht ausgegrenzt und verfolgt wurde, will Kleiss Personen, die bisher nur als Akten behandelt wurden, ins Licht der Forschung stellen und nicht zuletzt die Hypothese untermauern, dass die jüdischen Psychiatriepatient:innen ein Bindeglied zwischen NS-„Euthanasie“ und Shoah darstellen.

ASTRID LEY (Oranienburg) konzentrierte sich auf Konflikte zwischen einzelnen Tätergruppen im Hinblick auf eugenische Zwangssterilisierungen im KZ Sachsenhausen. Wie sie anhand von Beispielen zeigte, behinderten sich die Lager-SS, die Sterilisierungen unter anderem bei den Gesundheitsämtern anmelden und die Patient:innen zu Untersuchungen nach Berlin bringen mussten, und die Gesundheitsgerichte, beziehungsweise das Justizministerium, über Monate hinweg gegenseitig. Ernst Fraenkels Theorie des Doppelstaates folgend, versteht Ley diese Reibereien auch als beispielhaften Konflikt zwischen konkurrierenden Vertretern des Normenstaats, in dem Gesetze, Gerichtsentscheidungen und Vorschriften nach wie vor ihre Gültigkeit haben (hier das Justizministerium beziehungsweise die Gesundheitsgerichte), und des Maßnahmenstaats, in dem sich nicht an Rechten, sondern an der situativ-politischen Zweckmäßigkeit orientiert wird (hier die Lager-SS).

REINHARD SIMON (Neustrelitz) stellte sein Buch über die Landesanstalt Neustrelitz-Strelitz im Nationalsozialismus vor. In diesem Landesgefängnis wurden ab 1939 zunächst alle mecklenburgischen Sicherungsverwahrte gesammelt, später auch Häftlinge von außerhalb Mecklenburgs. Simon ging auf die Begrifflichkeit „geisteskranke Rechtsbrecher“ ein und erklärte den genauen Ablauf der „Euthanasie“-Morde in Neustrelitz, die dort nicht über die bekannten Meldebögen organisiert, sondern von angereisten Ärzten aus Berlin direkt durchgeführt wurden. Auch auf die Biografien von einzelnen Tätern ging Simon ein.

LEA MÜNCH (Berlin) sprach über ihr Dissertationsprojekt, in dem es um Häftlingsbiografien von Psychiatriepatient:innen aus dem annektierten Elsass geht. Auf der Basis der fast lückenlosen Überlieferung der Krankenakten im Untersuchungszeitraum 1941-1944 konnte Münch die Alltagsgeschichte und die Lebensrealitäten der Häftlinge nachvollziehen und rekonstruieren. Auch die ärztliche Perspektive zu unterschiedlichen Behandlungsmethoden, wie der Elektroschocktherapie, wurde in den Blick genommen.

CHRISTOPH SCHNEIDER (Frankfurt am Main), der die wenigen existierenden Zeugnisse von „Euthanasie“-Überlebenden thematisierte, ging es ebenfalls um die Opferperspektive. Am Beispiel einzelner solcher Zeugnisse und am Beispiel verschiedener NS-„Euthanasie“-Prozesse veranschaulichte er den Umgang mit diesen Zeugnissen und Zeug:innen nach Kriegsende. In der unmittelbaren Nachkriegszeit, etwa im Hadamar-Prozess in Frankfurt 1947, wurden nicht nur kaum Überlebende als Zeug:innen geladen. Deren Aussagen wurden direkt im Anschluss auch noch durch einen anwesenden Arzt willkürlich auf ihren Wahrheitsgehalt beurteilt. Doch auch noch in den 1960er-Jahren kam es in den Gerichten zu Solidaritätsbekundungen mit den Ärzten und nur in seltensten Fällen zu Verurteilungen. Dass sich Betroffene öffentlich äußerten, geschah laut Schneider erst in den 1980er-Jahren, als erstmals auch Angehörige von Opfern als Nebenkläger:innen in Erscheinung traten und Überlebende sicher sein konnten, dass die Gerichte und die Öffentlichkeit mit der Tätersolidarität gebrochen hatten.

Die Herbsttagung bot den Anwesenden auch in Corona-Zeiten Raum und Gelegenheit zum produktiven und direkten Austausch. Die Einführung des Konzepts der Intersektionalität, das sich in einigen Vorträgen ohnehin schon wiederfinden ließ, brachte neue Ansatzpunkte und Betrachtungsweisen, und das teilweise auch ganz praktisch. So wurden in einem der Workshops Interviews im Hinblick auf intersektionale Verfolgungsszenarien gemeinsam ausgewertet. Die Unterteilung der Gruppe in einzelne Workshops war ebenfalls ein Novum und wurde von den Teilnehmer:innen positiv aufgenommen, auch wenn innerhalb der Workshops teilweise ein klarerer thematischer Fokus auf einen Forschungsbereich gewünscht wurde.

In der Abschlussdiskussion und zwischendurch wurden immer wieder Themen angesprochen, die noch genauer untersucht werden müssen, zum Beispiel die Frage nach der Rolle von Patient:innen, die vom Pflegepersonal in Folter und Mord einbezogen wurden, oder die Frage nach dem Umgang mit Bildern der NS-„Euthanasie“. Diese und weitere Aspekte sollen nun auch zwischen den großen Tagungen in kleineren Online-Treffen behandelt werden können.

Konferenzübersicht:

Michael Wunder (Hamburg): Was ist der AK? – Einführung

Petra Fuchs (Berlin/Görlitz): Intersektionalität in der NS-„Euthanasie“-Forschung. Wechselwirkungen von „Behinderung“, Geschlecht und anderen Differenzkategorien am Beispiel von Lebensgeschichten weiblicher Opfer der „Aktion T4“

Workshop I: Neue Forschungen zu den Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde und Zwangssterilisierung

Alexander Kleiss (Salzburg): Jüdische Psychiatriepatient:innen im Nationalsozialismus in Österreich (1938–1945)

Astrid Ley (Oranienburg): Eugenische Zwangssterilisation und Konzentrationslager-System. Zur Konkurrenz von Normenstaat und Maßnahmenstaat im Nationalsozialismus

Reinhard Simon (Neustrelitz): „Krank hinter Gittern“ – Euthanasieverbrechen an „geisteskranken Rechtsbrechern“ in der Landesanstalt Neustrelitz-Strelitz

Workshop II: Archive und Quellen: Der Umgang mit den Zeugnissen nationalsozialistischer Verbrechen

Beate Mitzscherlich (Zwickau): Zwangssterilisation „im Dienste der Volksgesundheit“ – Auswertung der Zwickauer Erbgesundheitskarte

Carola Rudnick (Lüneburg): „geschichte-raum-geben“ – Frauen als Opfer der „T4“ / „Zwangssterilisation in Lüneburg“: zwei interaktive Projekte

Franziska Schmidt und Judith Sucher (Hadamar): Potentiale und Grenzen der Patient:innenakten der Jahre 1942–1945 als historischer Quelle

Workshop III: Netzwerke, Beziehungen, Dynamiken: Täter:innenforschung

Lea Fink (Berlin): „Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehn.“ „Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf!“ Nationalsozialistische Nietzsche-Rezeption und das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933

Kathrin Janzen (Wien): Das „T4“-Netzwerk. Nepotismus und Tatbeteiligung

Harald Jenner und Robert Parzer (Berlin): Der erste Euthanasieprozess 1945 in Meseritz-Obrawalde

Workshop IV: Zwischen Erinnerungskultur, Gedenkstättenpädagogik und Inklusionsdebatten – der Umgang mit den nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen seit 2000

Andreas Burmester (München/Irsee): Wunden der Erinnerung. Eine Auseinandersetzung mit Beate Passows Irseer Triptychon

Christoph Huber (Heidelberg): Ihre Stimmen zählen – Dynamiken und Folgen intersektionaler Verfolgung im Rahmen der NS „Euthanasie“ aus der Betroffenen-Perspektive

Lutz Kaelber (Burlington): Kompensation von Opfern eugenischer Zwangssterilisierung in Japan und den USA (North Carolina, Virginia und Kalifornien)

Workshop V: „In der Nachbarschaft“ – „Euthanasie“-Verbrechen und die deutsche Gesellschaft

Lea Oberländer (Mannheim): Mannheims verdrängte Opfer. Porträt einer Stadt im System der NS-„Euthanasie“

Dorothea Rettig und Marion Voggenreiter (Erlangen): NS-„Euthanasie“ in Erlangen – Handlungsspielräume und Stadtgesellschaft

Sebastian Schönemann (Hadamar): Die Fotografien von der Tötungsanstalt Hadamar 1941 – Entstehungshintergrund und Bildinterpretation

Lea Münch (Berlin): Von Straßburg nach Hadamar. Lebensrealitäten und Biografien von Patient:innen in der NS-Psychiatrie im annektierten Elsass (1941–1944)

Christoph Schneider (Frankfurt am Main): Die In/Existenz von Überlebendenzeugnissen der NS-„Euthanasie“ – Medium einer Auseinandersetzung


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